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Der Mann auf dem Steine

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Walther von der Vogelweide ist nur einer von vielen Minnesängern – höfische Dichter, die ab dem 12. Jahrhundert Minnelieder schreiben und auch vortragen. (Wobei Walther noch viel mehr geschrieben hat als Minnelieder! Schauen Sie mal hier!) Die Dichtungen befassen sich mit Liebe und ritterlichen Tugenden und prägen auch heute noch unsere Vorstellung von Romantik.

Anders als zum Beispiel im Sturm und Drang stand dabei der Dichter nicht als eine Art Autorgenie im Mittelpunkt. Außerdem gibt es über die Dichter selbst meistens nicht viele Informationen bezüglich des Geburts- und des Todesjahrs oder über den Hof, an dem sie sich aufgehalten haben. Doch trotzdem sind heute Minnesänger wie Walther von der Vogelweide oder Konrad von Würzburg wichtige Figuren unseres Mittelalterbildes.

Gerade Walther von der Vogelweide ist heute ein "Aushängeschild" des mittelhochdeutschen Minnesangs. Viele kennen noch seine Lieder Under der linden und Ich saz ûf eime steine.

Die ersten Verse des letzteren lauten:

     Ich saß auf einem Stein
     mit übergeschlagenen Beinen,
     auf die hatte ich meinen Ellenbogen gestützt.
     Kinn und Wange
     hatte ich in meine Hand geschmiegt.

Oder auf Mittelhochdeutsch:

     Ich saz ûf eime steine,
     dô dahte ich bein mit beine.
     dar ûf satzte ich mîn ellenbogen.
     ich hete in mîne hant gesmogen
     daz kinne und ein mîn wange.

Diese Verse werden im Bild Walthers von der Vogelweide im Codex Manesse aufgegriffen und inszeniert – sodass Walther bis heute der in der Denkerpose auf einem Stein sitzende "Dichterpromi" ist. Auch wenn Ich saz ûf eime steine eigentlich kein Minnelied ist, verschmelzen in der heutigen, nicht-wissenschaftlichen Rezeption oft Walthers Minnelieder mit dieser Körperhaltung und das melancholische Sitzen und Denken wird zum Inbegriff des sehnsuchtsvoll minnenden Sängers.

Das Konzertplakat, das Sie hier sehen, basiert auf diesem bekannten Bild und greift originale Elemente wie Walther selbst und das Wappen mit dem Vogel im Käfig auf - die Vögel werden zum Publikum des denkenden Sängers und warten gespannt auf den Beginn seines Vortrags.

Wie bei den oben aufgeführten Versen zu erkennen ist, unterscheidet sich das Mittelhochdeutsche vom gewohnten Neuhochdeutschen, doch mit ein bisschen Übung kann man sich auch diese Sprachstufe heute noch erschließen.

Tatsächlich wurde schon früh von den Dichtern Gebrauch von Metaphern und Symbolik gemacht, sodass komplexe Werke entstanden sind, welche das Thema „Minne“ immer wieder unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten und verarbeiten.

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Text und Übersetzung nach: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Text und Kommentar. Edition der Texte und Kommentare v. Ingrid Kasten. Übersetzung v. Margherita Kuhn. Frankfurt a. M. 2005, S. 472f.